FDP: Konzept zur Bewältigung der Pandemie

26.01.2021 – Christian Lindner, Michael Theurer, Christine Aschenberg-Dugnus

Am 27. Januar 2020 wurde das Coronavirus zum ersten Mal in Deutschland nachgewiesen. Bund und Länder reagierten auf die exponentiell steigenden Infektionszahlen im März 2020 mit einem ersten Lockdown. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde derart tief in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger eingegriffen. Geschäfte und Restaurants wurden geschlossen, Ausgangssperren verhängt, innereuropäische Grenzen dichtgemacht. Das Gesundheitswesen wurde extremen Belastungen ausgesetzt, hielt aber Stand. Lieferengpässe bei Schutzmasken und Desinfektionsmitteln führten uns jedoch vor Augen, dass wir nicht auf eine Pandemie vorbereitet waren. Nach einem Abflauen der Infektionszahlen im Sommer kam im Herbst die zweite Corona-Welle. Sie hält bis heute an.

Deutschland befindet sich im zweiten Lockdown, und zwar auf unbestimmte Zeit. Nach mehreren Verschärfungen gelten nun in allen Bundesländern noch strengere Vorschriften. Aus dem geplanten kurzen Wellenbrecher-Lockdown wurde ein Dauer-Stillstand, der nun mit der Sorge vor ansteckenderen Corona-Mutationen begründet wird. Die Hoffnung, die die Zulassung erster Impfstoffe vor einem Monat aufkeimen ließ, ist inzwischen durch die schleppende Impfkampagne und Lieferschwierigkeiten getrübt. In den vom Lockdown betroffenen Betrieben herrscht Frust, weil die Wirtschaftshilfen nach wie vor weder schnell noch unbürokratisch sind.

Die Beratungen der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder finden in immer schnellerer Abfolge ohne eine angemessene Beteiligung des Bundestages statt. Eine Langfriststrategie fehlt bis heute. So ist der Eindruck entstanden, dass die Verantwortlichen in Bund und Ländern zu Getriebenen der Entwicklung geworden sind. Dieser Eindruck ist gefährlich. Denn damit erhöht sich die Corona-Müdigkeit der Menschen weiter. Das zeigt auch der aktuelle ARD-DeutschlandTrend. Der Anteil der Befragten, der mit dem Krisenmanagement der Bundesregierung nicht zufrieden ist, wuchs von 42 Prozent Mitte Dezember 2020 auf 54 Prozent Mitte Januar 2021.

Menschen, Familien, Unternehmen brauchen Planbarkeit. Notwendig ist deshalb eine souveräne und verlässliche Strategie, die den Bürgerinnen und Bürgern Orientierung bietet und die notwendigen Maßnahmen begründet. Diese sechs Schritte sind jetzt notwendig:

  1. Schutz vulnerabler Gruppen verbessern. Sehr besorgniserregend sind die weiterhin hohen Fallzahlen in Altenheimen und Pflegeeinrichtungen. Auch die Sieben-Tage-Inzidenz der über 80-jährigen Menschen ist deutlich höher als die der Gesamtbevölkerung. Diese besonders gefährdeten Personen, die das höchste Risiko haben, schwer zu erkranken oder sogar zu sterben, benötigen bessere Schutzmaßnahmen. Die Qualität der Corona-Politik zeigt sich nicht an der Strenge der Maßnahmen für alle, sondern an der Wirksamkeit des Schutzes für die wirklich Gefährdeten. Die Zahl der Tests muss erhöht werden. Alle Besucher und Pflegekräfte müssen täglich getestet werden und FFP2-Masken tragen. Es sollten spezielle Task Forces eingesetzt werden, die in jeder Pflegeeinrichtung Hygienestandards, Abläufe und die Umsetzung der Schutzkonzepte unter die Lupe nehmen und gegebenenfalls nachsteuern. Bei Ausbrüchen in Pflegeeinrichtungen müssen die Task Forces zwingend zum Einsatz kommen.
  2. Impfkampagne auf die Erfolgsspur setzen. Wir müssen so schnell und so viel wie möglich impfen. Der erste Corona-Impfstoff wurde in Deutschland entwickelt und wird teilweise auch hier produziert. Trotzdem gelingt es nicht, zügig zu impfen. Israel, die USA und Großbritannien haben einen atemberaubenden Impfstart vorgelegt. Selbst im europäischen Vergleich sind wir nur im Mittelfeld. Wir müssen dringend aufholen. Deshalb müssen die Europäische Union und die Bundesregierung alles daransetzen, schnell mehr Impfstoffzu beschaffen. Dazu muss die Bundesregierung einen Impfgipfel mit pharmazeutischer Industrie und niedergelassenen Ärzten organisieren. Zudem sollte die Bundesregierung einen Plan zum Impffortschritt vorlegen: mit klaren Zielen, bis wann welcher Anteil der Bevölkerung den vollständigen Impfschutz erreicht hat. Auch sollen die mobilen Impfteams zu Menschen nach Hause kommen, die nicht in die Impfzentren kommen können. Dazu soll es ein unbürokratisches Erfassungsverfahren für häusliche Impftermine über die jeweilige Kassenärztliche Vereinigung oder die Hausärzte geben. Noch schneller wird es gehen, wenn die Arztpraxen direkt eingebunden werden. Das kann ab Februar möglich sein, sobald ein Impfstoff zugelassen ist, der nicht mehr extreme Lagerungsbedingungen hat. Der elektronische Impfausweis, wie von uns bereits 2019 gefordert, muss unter Einhaltung aller Datenschutzstandards zügig eingeführt werden. Wir benötigen eine ernsthafte Diskussion darüber, wie die Grundrechtseinschränkungen für bereits Geimpfte – sofern nachgewiesen ist, dass sie andere Menschen nicht anstecken können – aufgehoben werden können.
  3. Licht ins Dunkel bringen – Datengrundlage verbessern. Wir benötigen eine Datenoffensive. Wir wissen bis heute nicht, wo die Ansteckungsorte tatsächlich liegen. Das RKI weist in seinen dienstäglichen Situationsberichten immer wieder darauf hin, dass die Gesundheitsämter nur ein Sechstel der Infektionen einem Ausbruch zuordnen können. Die Gesundheitsämter müssen verpflichtet werden, endlich die Software DEMIS zum Datenaustausch und SORMAS zur Kontaktnachverfolgung zu nutzen. Die neuen ansteckenderen Mutationen des Coronavirus müssen genauer verfolgt und konsequenter gestoppt werden. Die häufigere Sequenzierung positiver Tests ist richtig, aber bei Einreisenden aus Mutationsgebieten wie Großbritannien müssen alle positiven Tests auf den jeweiligen Virusbauplan untersucht werden. Bis zu den nächsten Corona-Beratungen muss deutschlandweit eine solide Datengrundlage zur Verbreitung der Mutationen vorhanden sein. Die Gesundheitsämter müssen prioritär das Ausbruchsgeschehen mit Mutationen im Blick behalten. Die Corona-Warn-App muss kontinuierlich weiterentwickelt werden, ohne dass das hohe Datenschutzniveau der App durch ihre Einführung eingeschränkt werden darf – wir wollen zum Beispiel die Anbindung von Schnelltestzentren sehen, damit nicht unnötig viel wertvolle Zeit bei der Unterbrechung von Infektionsketten verloren geht. Zudem sind eine ganze Bandbreite von möglichen Zusatzfunktionen denkbar und sollten geprüft werden, wie eine Cluster-Erkennungsfunktionen, Testterminvereinbarung, bis hin zur Restaurant-Check-in-Funktion. Dies muss der Staat übrigens nicht alles selber machen, sondern kann deutlich schneller und eleganter über die „Öffnung“ der App für private Anbieter erfolgen. 
  4. Stufenplan für die Öffnung vorlegen. Wir wollen den Menschen eine Perspektive geben und deshalb eine behutsame Rückkehr ins gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben einleiten. Mit verlässlichen Daten über Ansteckungsorte und darüber, welche Schutzmaßnahmen wirken, können für wenig riskante Orte mit Hygienekonzepten Öffnungen stufenweise vorangetrieben werden. Dazu sind eindeutige, bundesweit einheitliche Wegmarken zu definieren, ab wann das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben wieder beginnen kann. Um eine nachvollziehbare lokale Differenzierung zu ermöglichen, sollte ein bundesweit einheitliches Ampelsystemeingeführt werden. Anhand dieses Ampelsystems kann klar kommuniziert werden, wie die aktuelle Situation aussieht, mit welchen Entwicklungen zu rechnen ist und mit welchen Maßnahmen darauf reagiert werden kann. Sie erlaubt darüber hinaus eine regionale und lokale Differenzierung der Maßnahmen. Grundlage dieser Corona-Ampel soll nicht nur die Sieben-Tage-Inzidenz sein, sondern daneben sollten weitere Kennzahlen berücksichtigt werden: eine Ü50-Inzidenz, mit der die Infizierten über 50 Jahre, für die eine besondere gesundheitliche Gefährdung besteht, erfasst werden können; ein Notification-Index, der die Dynamik der Entwicklungen abbildet und dabei die Zahl der Neuinfektionen mit den positiven Testbefunden und der Testhäufigkeit abgleicht; ein Hospitalisierungsindex, der die Belastung des Gesundheitswesens und insbesondere der Intensivkapazitäten abbildet sowie ein Ausbruchs-Streuungs-Index, der das Ausbruchsgeschehen danach bewertet, ob Cluster- oder diffuse Ausbrüche besonders häufig sind. Sobald die priorisierten Bevölkerungsgruppen mit dem höchsten Risiko auf einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf geimpft sind, muss auch darüber nachgedacht werden, diese Indizes neu zu gewichten (gegebenenfalls können dann höhere Inzidenzraten in Kauf genommen werden als heute). Zur Normalisierung können auch durch geschulte Laien eingesetzte Antigen-Schnelltests beitragen. Mit leicht anwendbaren und sicheren Schnelltests für den Eigengebrauch kann das Infektionsgeschehen – insbesondere der asymptomatischen Infizierten – niedrig gehalten werden. Deshalb ist es notwendig, die Zulassungsvoraussetzungen über die Medizinprodukte-Abgabeverordnung zu ändern. Dann kann die Abgabe von Schnelltests zur Eigenanwendung erfolgen.
  5. Therapeutika als Game-Changer voranbringen. Eine wichtige Rolle bei der Öffnung könnten auch die Therapeutika einnehmen. Aktuell befinden sich mehrere Therapeutika in klinischen Studien der Phase III und werden voraussichtlich noch in diesem Jahr zugelassen werden. Sollte sich die Hoffnung bewahrheiten, dass damit das Risiko schwerer und tödlicher Verläufe einer Corona-Erkrankung deutlich gesenkt werden kann, würden sie zum Game-Changer im Umgang mit der Pandemie werden. Je wirksamer die Medikamente, desto begehrter werden sie jedoch sein, es ist also gerade zu Beginn mit einer großen Knappheit zu rechnen. Wir müssen daher schon jetzt Sorge dafür tragen, dass wir keine Neuauflage des verpatzten Impfstarts erleben. Die Bundesregierung sollte daher sämtliche zur Verfügung stehenden Mittel prüfen, um diese nach der Zulassung möglichst schnell und in ausreichender Menge verfügbar zu machen. 
  6. Strukturelle Defizite beheben. Die Corona-Pandemie hat Deutschland gnadenlos seine strukturellen Defizite aufgezeigt. Mangelnde Digitalisierung der Verwaltung, Vernachlässigung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD), Kompetenzgerangel zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Nach dem Ende der Pandemie muss gründlich und schonungslos aufgearbeitet werden, wo unsere Strukturenversagt haben. Wir müssen uns besser auf die nächste Pandemie vorbereiten. Ein von uns bereits im Sommer 2020 vorgeschlagener regelmäßiger Stresstest des Gesundheitswesens muss etabliert werden. Auch die Verantwortlichkeiten der staatlichen Ebenen beim Gesundheits- und Katastrophenschutz müssen auf den Prüfstand. Sinnvoll wäre eine Kommission, die die Zuständigkeiten von Bund, Ländern und Kommunen neu regelt und dabei auch eine grundlegende Modernisierung des Robert-Koch-Instituts in den Blick nimmt. Der ÖGD benötigt Reformen in den Bereichen Controlling, Logistik und Informationstechnologie, wie sie bei der Bundesagentur für Arbeit und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgenommen worden sind. Schließlich muss es eine stärkere Zusammenarbeit auf europäischer Ebene bei der Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten nach dem Vorbild der amerikanischen BARDA geben.